Umschlagseite vorn Hessen-Kunst 1907, gestaltet mit Zeichnungen von Wilhelm Thielmann. Auf den Herausgeber der Hessen-Kunst, Prof. Christian Rauch, bezieht sich Alexandra Thielmann.
“Der Tod hat reiche Ernte unter den hessischen Malern gehalten”, schrieb Chr. Rauch in seiner Hessenkunst 1926, “1922 starb 0. Ubbelohde, ihm folgte 1923 H. Otto, und 1924 verloren wir W. Thielmann. Das Malerdorf Willingshausen, in dem er schon seit Jahrzehnten lebte, und wo er sein eigenes schönes Heim kurz vor seinem Tode bezogen hatte, wird nun immer einsamer werden.” Das ist nur zu wahr geworden; doch lebt noch Professor Thielmanns Gattin im alten Heim, in dem sie, dem Erbe des Gatten treu, Schwälmer Volkskunst pflegt. Sie hatte die Güte, uns als Nachklang aus Willingshausens hoher Zeit die hier veröffentlichten Zeichnungen ihres Gatten und C. Bantzers mit den folgenden Erinnerungen zu senden. (Vorbemerkung des Herausgebers.)
Prof. Rauch war ein guter Kenner meines Mannes und seiner Kunst, er hatte für seine ganze Wesensart ein so großes Verständnis, daß er in den Jahrgängen 1907 und 1921 der Hessenkunst, die er mit seinen Bildern schmückte, eigentlich schon alles ausgesprochen hat, was darüber gesagt werden kann. Vor allem hat Prof. Rauch auch seinen Humor und seine fröhliche Lebensauffassung vortrefflich geschildert, die, wie man im Nachruf des Hessenkalenders von 1926 liest, in dem Ausspruch gipfelte: „Wie bin ich so froh, daß ich geboren bin!“
Und auf dem Titelblatt vom Gästebuch der Künstlervereinigung Malerstübchen steht das Leitmotiv seines Lebens : ,.Mor je giebts Sonn!“ Ja, so war es, auch bei den mancherlei Fehlschlägen des ersten Weltkrieges war er so leicht nicht zu entmutigen und glaubte unentwegt an ein glückliches Ende.
Dieses fröhliche Temperament hatte er wohl in erster Linie seiner Mutter zu danken. Wilhelms Vater war ein schlichter, strenger Mann, der neben seinem Beruf als Postbote eine Schusterwerkstatt hatte. Um seine übermütigen drei Jungen in Schach zu halten, scheint er öfter vom Spannriemen Gebrauch gemacht zu haben. Die Mutter bemerkte wohl früh die Neigung ihres Jüngsten zum Zeichnen und unterstützte sie auf ihre Art, indem sie ihm von ihren abendlichen Einkaufsgängen ein Blatt weißes Zeichenpapier mitbrachte. Wilhelm erspähte sie dann schon beim Heimkommen vom kleinen Wohnstubenfenster aus und war glücklich, wenn er aus dem Einkaufskorb einen zusammengerollten weißen Bogen Papier hervorleuchten sah.
Dann saß er am nächsten Morgen schon im Nachthemdchen auf der Sofalehne und bedeckte den Bogen mit phantastischen Gestalten. Meist sollen es Schlachtenbilder gewesen sein mit vorwärtsstürmenden Soldaten und viel Pulverdampf. Auch bei seinen Versuchen, die Nachbarsleute zu zeichnen, half Mutter ihm in ihrer einfachen Art zurecht. Da fand sie die Nase ein bißchen zu lang oder zu kurz, dort das Auge nicht ganz am richtigen Platz. Jedenfalls nahm sie sich immer Zeit, alles mit Liebe und Verständnis zu betrachten. So gelang es ihm dann auch schon früh, den Herrn Nachbar oder die Frau Nachbarin sprechend ähnlich aufs Papier zu bringen.
Das veranlaßte den Herrn Metzgermeister, ihm einen Taler zu versprechen, wenn er ihn so zeichnete, daß ihn jedermann erkennen könne. Der kleine Zeichner, er mochte gerade schulpflichtig geworden sein, erledigte den Auftrag zur Zufriedenheit und erhielt dafür den versprochenen Taler. Er war unbeschreiblich glücklich über dieses erste, selbstverdiente Geld und nähte es fest ein in seine Westentasche, um ja nicht in Versuchung zu kommen es auszugeben oder in Gefahr, es zu verlieren.
Oft spielte er auch mit seinen kleinen Freunden fotografieren. Er zeichnete sie porträtähnlich auf kleine Blättchen Papier und verbarg dieselben heimlich im Schublädchen von Mutters Kaffeemühle, welche den fotografischen Apparat darstellte. Er setzte die Jungen in Positur, hing über seinen Kopf und die Kaffeemühle ein dunkles Tuch und ermahnte sie, ganz still zu sitzen und ein freundliches Gesicht zu machen. Dann drehte er geräuschvoll einige Male den Griff der Kaffeemühle – und holte das fertige Bild aus dem Schublädchen, zur großen Verwunderung seiner kleinen Kameraden.
Dieses Verfahren hatte sich herumgesprochen, und eines Tages, als die Familie Thielmann gerade beim Mittagessen saß, erschien eine Familie von auswärts mit Kindern. Sie hatten gehört, daß hier ein junger Fotograf wohne, der so gute Bilder mache, drum möchten auch sie gern fotografiert werden. Der Vater Thielmann klärte den Irrtum auf, und sie gingen enttäuscht ihres Weges.
Bis zur Ausübung eines künstlerischen Berufes war’s ein weiter Weg. Der nüchterne Vater wollte seinen Sohn vor einer brotlosen Kunst bewahren und verlangte eine “solidere“ Berufsbildung. Es sollte seinem Sohn Wilhelm nicht gehen wie jenem jungen Herborner, der auch so hoch hinaus gewollt hatte, aber mit Flicken auf dem Hintern und als Tagedieb wieder heimgekommen war. So schickte ihn der Vater auf die Präparandenschule, dann zum Lehrerseminar in Herborn, und Wilhelm wurde zunächst Volksschullehrer.
Willingshausen Zeichnung von Wilhelm Thielmann, 1899
Doch nach einigen Jahren gelang es ihm, sich auf der Kunstgewerbeschule in Kassel die nötige Ausbildung als Zeichenlehrer anzueignen. Nach gut bestandenem Examen erhielt er auch gleich an derselben Schule eine Anstellung. Von da aus kam er in den Ferien nach Willingshausen und geriet in den fröhlichen Kreis der dort schaffenden freien Künstler. Da gefiel es ihm so gut, daß er seine amtliche Stellung auf gab und ganz dahin übersiedelte. Im Umgang mit den dort alljährlich im Sommer lebenden Malern Bantzer, Heinrich Otto, Heinrich Giebel und anderen genoß er die schönste Anregung und konnte seine künstlerischen Anlagen voll entwickeln.
Er war der einzige, der auch im Winter in Willingshausen aushielt und ganz dort lebte, und diesem engen Kontakt mit der bäuerlichen Bevölkerung ist wohl die Treue seiner Schilderungen bäuerlichen Lebens und Schaffens, im besonderen auch seine echte Charakteristik der Schwälmer Menschen und Landschaft, zu verdanken. Er besuchte die Leute in ihren Häusern und kannte ihre Sorgen und bescheidenen Freuden.
Einmal bat ihn ein Merzhäuser Bauer, ihn zu zeichnen, er wolle das Bild seinem Sohn nach Brasilien schicken. So erfüllte er den Wunsch des Bauern und schenkte ihm das Blatt. Als er nach einigen Wochen wieder vorüberkam, frug er, ob sich denn der Sohn in Brasilien darüber gefreut habe? .. Nee“ – sagte der Bauer – „ich hon’s em nit geschickt – ich hon mer e Rähmche drim gemocht – der mag denke, ich wär dod!“ „Dann will ich Euch noch einmal zeichnen“, sagte Thielmann, „dann könnt Ihr das dem Sohn schicken“, und zeichnete ihn zum zweiten Male. Und als er wiederum nach längeren Wochen seinen Bauern frug, ob er denn nun dieses Mal die Zeichnung nach Brasilien geschickt hätte, meinte der Bauer: „Nee – jetz hat sich mein Sohn e Rähmche drim gemocht, der anner mag denke, ich wär dod!“ Dabei blieb es dann.
In seiner Junggesellenzeit wohnte Thielmann im Gasthaus Haase in Willingshausen, wo man im Winter mit dem Feuerholz recht sparsam umging. Da saß er dann in eine Decke gewickelt im Malerstübchen und übertrug seine feinen Zeichnungen auf die Kupferplatte. Die meisten seiner Radierungen sind in dieser Zeit entstanden. Oft bestellte er sich auch seine Modelle dorthin, so entstand dann unter anderem auch die “Wirtshausszene”.
Dabei mußte auch des öfteren eingeschenkt werden, damit die gehörige Stimmung zustande kam. Die Weiber sollen derzeit froh gewesen sein, als die Zeichnung fertig war, denn ihre Männer waren oft allzu heiter nach Hause gekommen!
Sowie dann aber die Tage länger und heller wurden, hielt es ihn nicht mehr im Haus. Er durchstreifte die Wälder und Wiesen und freute sich über die ersten Anzeichen des kommenden Frühlings. Für ihn war der Vorfrühling die schönste Zeit des Jahres, die ihn immer wieder zum Zeichnen im Freien begeistert hat.
Es sind jetzt nicht mehr viele Leute hier, die ihn noch persönlich gekannt haben. Aber in ihrem Herzen lebt er immer noch als der allzeit zu Scherzen aufgelegte fröhliche Mitbewohner ihres Dorfes, mit dem sie sich so gut vertragen hatten!